Von Christopher Ecker. Aus: Stücke über die Schwerkraft, Museumsberg Flensburg 2012.

Hand, Himmel, Stuhl – Gedanken zu drei Arbeiten von Volker Tiemann

Selten hat Immanuel Kant, der große Philosoph der Aufklärung, etwas Verständlicheres, Eingängigeres niedergeschrieben als seine berühmten drei Fragen. »Alles Interesse meiner Vernunft (das spekulative sowohl, als auch das praktische)«, heißt es in der Kritik der reinen Vernunft, »vereinigt sich in folgenden drei Fragen:

  1. Was kann ich wissen?
  2. Was soll ich tun?
  3. Was darf ich hoffen?«

Diese drei Fragen kartographieren für Kant das Tätigkeitsfeld der Philosophie vollständig und sie gipfeln in der einen, sie alle in sich vereinigenden Frage: »Was ist der Mensch?«

Die Kant’schen Fragen lassen sich leicht auf die Einzeldisziplinen der Philosophie beziehen. »Was kann ich wissen?« ist die Leitfrage der Erkenntnistheorie; »Was soll ich tun?« ist die Leitfrage der Ethik; »Was darf ich hoffen?« ist die Leitfrage der Metaphysik und die eine Frage, aus der diese drei Fragen ableitbar sind oder in die diese münden, also die Frage: »Was ist der Mensch?«, ist die Leitfrage der Philosophischen Anthropologie.

Volker Tiemann bezieht sich in drei seiner Arbeiten, die aufgrund der räumlichen Präsentation in einen engen Zusammenhang miteinander gesetzt werden, auf die Kant’schen Fragen. Und dies tut er in einer nur scheinbar ironischen Art und Weise, deren Witz bereits bei kurzem Nachdenken in ernsthaftes Philosophieren umschlägt.

Was kann ich wissen

Großes Stück über die rechte Hand Nr. 2 – Was kann ich wissen?

Entstehungsjahr
2012
Material
Holz, Farbe, Spachtelmasse
Maße
243 x 200 x 205 cm, Höhe Figur 104 cm

Die erste Arbeit trägt den Titel: »Großes Stück über die rechte Hand«. Eine junge Frau betrachtet ihre rechte Hand. Sie hat den Arm angewinkelt und blickt in einer in sich gekehrten Konzentration auf ihren Handrücken. Wir befinden uns in einem erkenntnistheoretischen Prozess, der offenbar das alltägliche Wahrnehmen in Frage stellt. Ist da wirklich eine Hand und wir nehmen sie mit den Sinnen wahr (wie die Empiristen vermuten) oder ist die Hand, die wir sehen, nur ein Abbild der Idee »Hand«, die wir allein mit dem Verstand wahrzunehmen in der Lage sind (wie es die Rationalisten behaupten).

Der Blick der jungen Frau ist fern von jeder Sicherheit. Aus einer exzentrischen Position heraus betrachtet sie einen Bestandteil der Außenwelt, einen Teil ihres Körpers, und ist noch weit davon entfernt, zu einem Ergebnis zu kommen. Kann man in ihrem Gesichtsausdruck nicht sogar einen Anflug von Irritation erkennen? Etwas, das unstofflich ist (ihr Ich), denkt über etwas nach, das stofflich ist (ihre Hand), und dabei wird ihr die schmerzhafte Trennung von Leib und Seele bewusst, die allerdings auch etwas Komisches hat, wie Helmuth Plessner weiß, wenn er schreibt: »Eigentlich komisch ist der Mensch, weil er mehreren Ebenen des Daseins zugleich angehört.« Wie geht es wohl der jungen Frau beim Betrachten ihres Handrückens? Ist sie so in Gedanken versunken, dass sie sich in einer rein geistigen Sphäre bewegt, wo Gefühle keinen Platz haben? Oder ergreift sie allmählich eine melancholische Betrübtheit?

Ludwig Wittgenstein beginnt sein Werk Über Gewissheit mit dem Satz: »Wenn du weißt, dass hier eine Hand ist, so geben wir dir alles übrige zu.« Also wer davon ausgeht, dass die Hand, die er betrachtet, eine Hand, und zwar genauer: seine Hand, ist, der braucht nicht weiterzulesen. Wer aber zweifelt, der sollte weiterlesen und wird bald auf Sätze wie diesen stoßen: »Bewähre ich nun im Leben, dass ich weiß, dass da eine Hand (nämlich meine Hand) ist?«

Was darf ich hoffen?

Zerstreute Betrachtungen 2 – Was darf ich hoffen?

Entstehungsjahr
2007
Material
Holz, Sperrholz, Farbe
Maße
154 x 155 x 64 cm, Höhe Figur 64 cm

Eine Frage zum Händeringen – oder zum wilden Gestikulieren. Die zweite Arbeit Tiemanns, die sich mit den Kant’schen Fragen auseinandersetzt, trägt den Titel »Zerstreute Betrachtungen« und zeigt einen in den Himmel blickenden, gestikulierenden Mann. Seine Gesten scheinen einen Gedankenprozess zu begleiten, dessen Antwort nur von außerhalb kommen kann, und präziser: von außerhalb und von oben. Die Arbeit bezieht sich auf Kants Frage: »Was darf ich hoffen?« Eine Frage, in der sich wie in der Büchse der Pandora zahllose weitere unbeantwortbare Fragen versammeln: Gibt es einen Gott? Was ist der Sinn des Lebens? Gibt es ein Leben nach dem Tod?

All dies sind marternde Fragen, auf die es keine Antwort gibt, da entweder unser Verstand nicht vermag, die Antwort zu verstehen, oder weil unsere Sprache nicht ausreicht, um sinnvoll über Metaphysisches zu reden. »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen«, schlägt Ludwig Wittgenstein vor, aber hält sich selbst nicht dran, da das Ringen mit den Sinnfragen zum Menschen gehört und ihn letztlich erst zum Menschen macht. Tiemanns denkender Mann, der sehnlich auf Antwort hofft (obwohl er weiß, dass keine Antwort von außen kommen wird, ja, dass es womöglich keine Antworten auf seine drängenden Fragen gibt), wirkt allein, allein bei sich, doch in Wahrheit ist er umgeben von anderen, prägt doch selbst den Einsamsten die Mitwelt. »Wir suchen unser Glück außerhalb von uns selbst«, heißt es bei La Bruyère, »noch dazu im Urteil der Menschen, die wir doch als kriecherisch kennen und als wenig aufrichtig, als Menschen ohne Sinn für Gerechtigkeit, voller Missgunst, Launen und Vorurteile. Welch eine Verrücktheit!«

Was soll ich tun

Stück mit Stuhl – Was soll ich tun?

Fotoreihe von insgesamt 83 Bildern, die in einem Zeittakt von jeweils ca. 1,5 Sek. auf einem an der Wand montierten Monitor zu sehen sind. Mit etwas Abstand ist rechts neben dem Monitor das kleine Stuhlmodell ebenfalls an der Wand befestigt

Und schon nähern wir uns einer weiteren Kant’schen Frage, nämlich der Frage: »Was soll ich tun?« Diese naiv, fast kindlich anmutende Frage bezieht sich auf alle Handlungen, ist man doch gleichermaßen verantwortlich für andere und sich selbst. Aber was soll man nun tun? Peter Bieri schreibt: »Wir müssen, um handeln zu können, verstehen, was wir wollen und tun.« Wir müssen also die Verantwortung der Handlung übernehmen und uns als deren Akteure begreifen. Schön und gut, aber was soll man nun tun?

Volker Tiemanns Arbeit »Stück mit Stuhl«, die sich mit dieser Frage beschäftigt, hat im Unterschied zu den anderen beiden Arbeiten fragmentarischen Charakter, als habe der Künstler gefürchtet, sich festzulegen, als habe ihn eine plötzliche Lähmung ergriffen, die es ihm unmöglich machte, sich für eine Handlung, also eine einzige Ausgestaltung zu entscheiden.

Um die Entscheidung zu umgehen, liefert er Variationen ab (aber auch das ist natürlich eine Entscheidung): Man sieht Fotografien des Künstlers selbst, der auf einem Stuhl sitzt, darauf herumrutscht, keinen rechten Platz auf der Sitzfläche zu finden scheint: Ein Mensch, der womöglich gerade im Begriff ist, eine kleine Entscheidung zu treffen, der man keine große Bedeutung beimisst. Denn was ist schon dabei, vom Stuhl aufzustehen, auf dem man sitzt? Und doch kann dieses Aufstehen der Beginn einer Kette von Handlungen sein, an deren Ende eine Umarmung oder ein Mord stehen kann. Und deshalb ist es eines der schwierigsten Dinge von der Welt, vom Stuhl aufzustehen.

Wie beantwortet Volker Tiemann nun mit seinen drei Arbeiten die Kant’schen Fragen? Gar nicht. Er will sie nicht beantworten, weil er weiß, dass diese Fragen gar nicht beantwortbar sind. Nur Ideologen und Fanatiker kommen uns mit Wahrheiten. Tiemann vielmehr wählt einen anderen Weg: Er gestaltet diese Fragen dreidimensional und szenisch aus. Er stellt sie somit neu, indem er ihnen eine plastische Gestalt verleiht, und wenn wir seine Arbeiten betrachten und uns Gedanken über die sich darin verbergenden Fragen machen, geraten wir ins Philosophieren. »In das, was Denken heißt«, schreibt Martin Heidegger, »gelangen wir, wenn wir selber denken.« Volker Tiemanns Arbeiten führen den Betrachter tief ins Denken hinein.