Das Liebesleben der Singvögel ist reinste Poesie: Die Weibchenpaaren sich lieber mit
Männchen, die schwierige Lieder singen.
Schon eine geringfügige Verschiebung der gewöhnlichen Parameter genügt, um den Boden unter den Füßen weggezogen zu bekommen. Angenommen, Singvögel verlören ihre Handtellergröße, würden massig wie Koffer auf Ästen sitzen und ihre Konzerte geben – geriete nicht alles anders? Allein durch Zunahme der Körperpräsenz würden die Vögel ihre Possierlichkeit einbüßen und, aufgrund ihrer Flugfähigkeit, zum potentiellen Gegner anschwellen. Sie wären wegen der Vergrößerung ihres körpereigenen Resonanzraumes in der Lage, wesentlich lauter zu singen, würden Felder verheeren und auf der Nahrungskette weit nach oben rücken – vielleicht sogar ihre Erzfeinde, Katzen, krallen; Vögel, die Katzen fangen: ein archetypisches Täter-Opfer-Schema würde umgedreht. Es wäre nicht mehr auszuschließen, dass auch andere Bezugsgrößen unseres Lebens ins Wanken gerieten, nichts wäre vor der Bugwelle dieser Unsicherheit mehr sicher, die Geschichte der Weltwahrnehmung müsste umgeschrieben werden.
In seiner Arbeit »Für die Vögel« hat Volker Tiemann dieses monströse Singvogel-Szenario als Modell entworfen. Wer davor steht, wird die entscheidende Sekunde zu lange hinsehen, staunen – und das Unheimliche im Niedlichen begreifen lernen. Kurz: er wird zu philosophieren beginnen, über Gut und Böse, Alles und Nichts.
Staunen oder Verwunderung ist eine typische Reaktion, die der Betrachter den Werken von Tiemann entgegenbringt. Sokrates, Platon, Aristoteles haben das Staunen als Anfang der Philosophie bezeichnet, als den Moment der Verwunderung, dass die Dinge so sind, wie sie sind. Die Besonderheit beim Impuls für das Philosophieren ist nun, dass gerade das Gewöhnliche, selbstverständlich Scheinende zum Erstaunlichsten wird.
Die Kleinplastik »Zwei Kartoffeln« belegt diesen Umstand. Auf einer mit Spachtelmasse ausgebesserten, angedeuteten Tischplatte liegen zwei aus Hartschaum bestehende Objekte, die geschälten Kartoffeln exakt gleichen; wenn etwas so Elementares wie eine geschälte Kartoffel noch nicht erfunden wäre, könnte so ihr Modell aussehen.
Im Küchenkontext gehen die Vorbilder dieser Objekte täglich gedankenlos durch Millionen Hände. Würde man die beiden Hartschaumobjekte aus dem Kunst- in den Küchenkontext zurückschmuggeln, wären sie mühelos in der Lage, Ockhams Rasiermesser abzustumpfen. Hier, im Kunstraum jedoch, bleibt man vor dem Modell einer banalen Kartoffel stehen, stutzt, bringt dem bescheidenen Objekt samt bescheidenem Titel die Aufmerksamkeit entgegen, die es als das deutsche Grundnahrungsmittel beanspruchen darf. Der Kunstraum ist dabei anarchischer Versuchstempel, in dem solche Versuche des Ausgleichs eines Aufmerksamkeitsdefizits auf einer sinnlich nachvollziehbaren Ebene geschehen dürfen. Indem das Staunen die bisher wenig bedachten Dinge hinterfragt, bringt es die Erkenntnis über die Phänomene der Welt voran. Denn oft ist die Wirklichkeit ganz anders als in unserer (un)natürlichen Einstellung. Auf diese Weise hält der Gegensatz von bloßer Meinung und Wahrheit das Streben nach Erkenntnis fortwährend in Atem. Im Kunstraum gelingt es, gedrängt und in raschen Abfolgen, Momente der Wirklichkeit für Augenblicke außer Kraft zu setzen, um dem Betrachter in der Rückbesinnung auf die Wirklichkeit eine Erfahrung und Erkenntnis zu ermöglichen, die ihm die Außenwelt nicht mehr in dieser Unmittelbarkeit bieten kann.
Als Dreh- und Angelpunkt für gedankliches Entflammen nutzt Tiemann das Modell. Ein Modell ist ein vereinfachtes Abbild der Realität, geschaffen zum Zweck, übertragbare Ergebnisse zu erzielen. Die Thematisierung des Modellbegriffs ist eine weitere Triebfeder in seinem Werk; stets wird die Frage nach dem Verhältnis von Modell und Wirklichkeit aufgeworfen. Eine wesentliche Klassifizierung des Begriffs Modell ist die Frage, ob ein Modell vor- oder nach der Natur entworfen wurde. Die Arbeiten von Volker Tiemann ermöglichen in diesem Punkt keine eindeutige Antwort: Da sie sich im konkreten Zugriff auf das wiedererkennbare Zeichensystem der äußeren Welt beziehen, können sie als nach der Natur entworfen gelten; andrerseits zeugen der zur Schau gestellte billige »Übergangs-Materialien«, Behelfsmäßigkeiten oder bloßliegende Spachtelmassen von provisorischem Werkstattcharakter – was impliziert, dass ein noch zu fertigendes »danach« eingefordert wird. Folgt man Aristoteles Idee, dass alle Dinge nach Vollkommenheit streben, steht die Verwirklichung der bewusst im Unfertigen belassenen Modelle noch aus. Sie steht deswegen aus, damit die Freisetzung des utopischen Potentials, welches in den Objekten steckt, im Kopf des Betrachters stattfinden kann. Erst in diesem immateriellen Vorgang finden die Modelle ihre (unterschiedlichen) Verwirklichungen.
Die Arbeit »Tischstück mit ausgestrichenem Haus« versinnbildlicht das Gedankengebäude um die Modellproblematik im wahrsten Sinne des Wortes. Der flüchtige Moment des Verwerfens einer Skizze wird hier zum Ausgangspunkt für eine artifizielle Erhöhung genutzt; eine im Affekt mit einer krakeligen Zickzacklinie durchgestrichene Hausskizze feiert seine Auferstehung als ein dreidimensionales Modell. Das zweidimensionale Scheitern wird zum dreidimensionalen Triumph stilisiert. Das Modell triumphiert über die Zeichnung, der Künstler via Modell über sich selbst, seine empfundene Unzulänglichkeit. Dieser selbstrefenrenziellen Arbeit steht das aufbauende Credo »Scheitern als Chance« eingeschrieben. In »Ruhende Gegenstände« und »Geworfene Gegenstände« thematisiert Tiemann sich in diesem Sinne auch in seiner Physis. Zwei 40 cm hohe, unbemalte Schnitzfiguren zeigen ihn, auf zwei grün colorierten, organisch abgerundeten Sockelplatten. Die Sockelplatten werden ihrerseits getragen von zwei schlichten, wuchtigen Sockeln aus Kiefernholzbrettern, welche die Figuren verloren wirken lassen. Je nach Standpunkt steht oder geht eine der beiden Figuren frontal zum Betrachter, während die andere seitwärts gerichtet ist. Die Duplizierung seiner eigenen Person im Modell ermöglicht Tiemann einen marionettenhaften Umgang mit sich selbst. Aus jedem Blickwinkel heraus kann so das zeitgleiche »Neben sich stehen« und »Von sich gehen« als meditative Erfahrung exemplarisch nachvollzogen und ins Metaphorische erweitert werden. Dieses (Doppel)Modell, das zugleich auch ein Selbstportrait nach der Natur ist, dient dem Künstler nicht zuletzt auch als Rückversicherung seiner Existenz. Eigenart von Tiemanns plastischen Arbeiten ist die Diskrepanz von äußerst filigraner, auch handwerklich hoher Schnitzqualität in Paarung mit einer gewissen (Schein)Lapidarität, die dem wuchtigen Sockelteil zu eigen ist. Es wirkt, als würden die grobschlächtigen Sockel den handwerklichen (und selbstreferenziellen!) Höhenflug der Schnitzfiguren erden; oder andersherum, als zögen die Schnitzfiguren die wuchtigen Sockel mit herauf. Pole einer Arbeit, die sich so mittig in Spannung zu halten versteht.
In »Fischli und Weiss im Grünen« verschiebt Tiemann seine Sympathie für kühle Versuchsanordnungen zugunsten einer offensichtlich narrativen Szene. Auf der von den geschnitzten Selbstportraits bereits bekannten grünen Sockelplatte, stehen, geschnitzt und coloriert, zwei Bäume, zwischen denen ein Figurenpaar platziert ist, welches offenbar, dem Titel zufolge, die Schweizer Künstler Fischli und Weiss darstellen soll. Einer der beiden steht, die Hände in den Hosentaschen, und blickt auf den anderen, der auf dem Boden sitzt und sich den Kopf hält. Vor dessen geöffneten, weit von sich gestreckten Beinen liegt ein Apfel.
Zwei Geschichten laufen in diesem Szenario zusammen: Die eine ist, dass »Fischli und Weiss« vor allem mit ihrem Film »Lauf der Dinge« in Erscheinung getreten sind, einem Musterbeispiel phantasievollen Ausnutzens von physikalischen Ursache-Wirkungs-Prinzipien, welche in Kettenreaktionen mit allerlei Atelier-Gerümpel zu einem wunderbar-wüsten Parcours arrangiert wurden; die Videoaufzeichnung dieses Versuchsparcours-Parcours hat Kunstgeschichte geschrieben. Die andere Geschichte, welche augenscheinlich in dieser Szene mit angelegt ist, ist die von Newton und dem Apfel. Newton, so wird überliefert, saß grübelnd unter einem Apfelbaum, als ein Apfel auf seinen Kopf fiel. Dies brachte ihn auf die Idee, die Himmelsmechanik beruhe auf derselben Gravitation wie der Fall von Äpfeln auf die Erde. »Fischli und Weiss im Grünen« transportiert beide Geschichten und macht sie zu einer: Der des fortwährenden Spannungsverhältnisses zwischen Kunst und Wissenschaft. In einem laokoonhaften Moment offenbart sich das Paradox: Die Künstler Fischli und Weiss bekommen in Form des ihnen auf den Kopf schlagenden Apfels die Härte wissenschaftlich bewiesener Gravitation, somit die (physischen) Grenzen der Kunst, zu spüren – ein Schlag, der seinerseits Initiationsmoment für eine brillante Idee ist, die sich (die Mechanismen der Physik nutzend ) dann wieder künstlerisch entlädt. – Ein von Tiemann modellhaft inszenierter Circulus vitiosus, eine Kopfnuss um den innovativen Moment der Inspiration unter Bedingungen der Machbarkeit. Sinnbild des Staunens: der Betrachter staunt vor dem Modell, der Künstler in dem Modell, der Wissenschaftler hinter dem Modell.
Ein plastisches Werk ist immer auch ein räumliches Ereignis, das präsentiert werden will. Die traditionelle Präsentationsform einer bildhauerischen Arbeit ist die eines Sockels. Ein Sockel gibt der Arbeit ihren unmittelbaren Platz, betont den Charakter, den Status und hebt das Werk dem Betrachterauge entgegen. Was auf einem Sockel steht, das ist per se ausstellenswert = Kunst , so schien oder scheint es manchem; die imposante Präsentationsvariante unterfüttert im Betrachter die Annahme, dass das, was so opulent präsentiert wird, es auch wert ist, so opulent präsentiert zu werden – eben weil es sich um ein hochrangiges Kunstwerk handelt.
Ein dominanteres Präsentationsmodell als das, welches Tiemann für seinen bronzenen Protagonisten der Arbeit »Zerstreute Betrachtungen« gefertigt hat, kann man sich kaum vorstellen: die Sockelsäule ist im Ganzen fünf Meter hoch. Sie ist von angenehmer Verhältnismäßigkeit, schlicht und klassisch-elegant. Der auf ihr stehende, vergrößerte, profan wirkende Küchenhocker und das bloße Bausperrholz, aus dem die Säule zusammengenagelt ist, geben dem ganzen Ensemble einen provisorischen Charme. Hoch oben auf dem Hocker steht die Bronze-Figur eines Mannes, der empfängnisbereit Arme und Kopf dem Himmel zugewandt hält.
Offensichtlich thematisiert die Präsentationsform, die im öffentlichen Raum installiert ist, sich auf eine ebenso ästhetisch ansprechende, wie pervertierte Art selbst; die in Zwiesprache mit dem Himmel befindliche Figur scheint dem Himmel näher zu sein als mach anderer. Als wäre die Figur Ausdruck der Erwartung an sich selbst, wird sie, sozusagen als Selffulfilling prophecy, via Säule tatsächlich in luftige Höhen entrückt, dem Himmel so nah wie möglich entgegengebracht. Da sie mit ihrer Größe von 65 cm kleiner als lebensgroß ist, wirkt sie noch weiter entfernt, als sie ohnehin schon ist. Der Betrachter muss mit der Froschperspektive Vorlieb nehmen.
Noch offensichtlicher präsentiert sich der Sockel als Hauptprotagonist in »An dieser Stelle stand A. Rautenberg und las Gedichte von A. Rautenberg«. In Form und Farbe exakt dem Sockel des Dirigentenengels aus dem Engelorchesters – kleine Schnitzfiguren aus dem Erzgebirge – nachempfunden, nur: derart maßstabsvergrößert, dass eine reale Person (anstatt der des Dirigenten) auf dem Sockel Platz finden kann. Der leere Sockel wurde vom Verfasser mit einer Dichterlesung bespielt; anschließend vom Künstler mit einem kleineren Sockel versehen, in dem eine Sprechblase steckt. Diese weist symbolisch auf den vonstatten gegangenen Akt des Sprechens – indem in ihr steht, dass genau an dieser Stelle eine Dichterlesung abgehalten wurde. Hier ist der Sockel unmittelbar als ein temporärer Träger von Wirklichkeit inszeniert und als solcher gleichzeitig historisiert.
Neben oben angeführten Merkmalen bleibt der Sockel Bindeglied zwischen Kunstwerk und Außenwelt. Der Künstler hat mithilfe des Sockels die Möglichkeit, zusätzliche Kontrolle über sein Werk auszuüben, es in der Außenwelt in seinem Sinne zu betten. So lässt sich, schlicht betrachtet, ein Stück Umwelt zum Kunstwerk noch vom Künstler mitgestalten – was die Wirkung des Kunstwerks, wie in Tiemanns Fall, erhöht; die Präsentationsform ist ebenso Kommentar zum Kunstwerk, wie das Kunstwerk Kommentar zur Präsentationsform ist. Dies ist ein wichtiger Punkt. In Tiemanns Einzelausstellungen wird zudem der Grad des Arrangements der Arbeiten zueinander im Raum deutlich. Halb scheint Angst vor Kontrollverlust, vor dem Loslassen der Arbeiten in die böse, flatterhafte Außenwelt dem Umstand Rechnung zu tragen; halb dominiert ein mächtiger Ordnungsimpuls, der dem unwägbaren Chaos der Realität im Kunstraum ein stabilisierendes Moment in Form einer Ordnungsutopie entgegenzusetzen sucht.
Staunen über ein Modell, dass sich in seiner Präsentationsform mit heiterer Gelassenheit selbst in Frage stellt - auf diese Formel lässt sich die Rezeption von Volker Tiemanns Werk bringen. Das komische Element, das aus den Arbeiten spricht, ist grundsätzlich wie das Tragische zu begreifen: als Konflikt widersprüchlicher Prinzipien. Das Tragische steckt genauso in den Arbeiten. Der Tiemannsche Humor ist keiner, der sich über die Welt erhebt, sich über sie lustig, sie gar lächerlich macht; ebenso wenig ist er spöttischer Kommentar über den Kunstbetrieb. Tiemanns heiterer Impuls kommt aus dieser Welt, weil er sie ernst nimmt und in ihr verankert ist. Dieser Umstand erhellt seine Arbeiten, nimmt ihnen (auch im metaphysischen Sinne) das Dunkle und Romantische; Besonnenheit, edle Einfalt und stille Größe charakterisieren Tiemanns Werk nahezu als klassisch. Etwas Unprätentiöses spricht daraus, ein anregend formuliertes Diktat: Zurück zu den Sachen selbst! – um eine offenere Haltung zur Wirklichkeit zu finden und zugleich eine solide Skepsis gegen alles voreilige Bescheidwissen aufrecht zu halten. Indem Tiemann dem Betrachter eine Scheinwelt aufbaut, »zwingt« er ihn, sich zum Kaumbeachteten bewusst in Beziehung zu setzen, um den Urzustand des Staunens wieder herzustellen. Volker Tiemann gibt einen Anstoß, unsere Existenz, die wir so selbstverständlich hinnehmen wie ein paar geschälte Kartoffeln, vielleicht nocheinmal als Glücksfall zu überdenken.
Brecht-Haus, Svendborg, August 2004