Interview mit Dorothee Bieske. Aus: Stücke über die Schwerkraft, Museumsberg Flensburg 2012.

Zufall und Notwendigkeit - Gespräch mit Volker Tiemann

Stücke über die Schwerkraft

Dorothee Bieske:

Du hast deine Ausstellung »Stücke über die Schwerkraft« genannt. Wie bist du auf diesen Titel gekommen? Was hat die Schwerkraft mit deinen Arbeiten zu tun?

Volker Tiemann:

Ich kam darauf, als ich im letzten Jahr eine große Arbeit im Außenraum in Luxemburg aufgestellt habe. Sie heißt »Großes Stück über die Schwerkraft«. Dabei ist mir klar geworden, dass das eine ganz brauchbare Klammer um viele meiner Arbeiten ergibt – der Begriff der Schwerkraft oder das Nachdenken über die Schwerkraft stellt eine Grundproblematik in der Bildhauerei dar. Früher habe ich beim Arbeiten darüber nachgedacht, dass es ärgerlich ist, dass es die Schwerkraft gibt, weil man sich daran abarbeitet, wenn man Skulpturen baut. Die Dinge bleiben nicht von allein dort, wo man sie gerne hätte, sondern man muss verhältnismäßig viel Energie investieren, um die Dinge so aussehen zu lassen, wie sie aussehen sollen, man muss quasi gegen die Schwerkraft an arbeiten.

Gleichzeitig, und das ist mir zunehmend klar geworden, liegt genau in dieser Einschränkung oder in dieser Notwendigkeit eine große Möglichkeit. Verhältnismäßig viele Arbeiten – nicht nur meine, sondern ganz allgemein – sind überhaupt erst durch die Tatsache zustande gekommen, dass die Dinge von oben nach unten fallen, wenn man sie nicht festhält. So steckt in dieser Einschränkung eine Vielzahl von Möglichkeiten. Vielleicht ein ganz klassisches Beispiel: Alexander Calder hätte höchstwahrscheinlich keines seiner Mobiles gebaut, wenn es nicht diesen Zusammenhang gäbe.

DB:

Mir fallen dazu einige deiner Arbeiten ein, z. B. eine Arbeit, bei der eine Vase vom Sockel zu stürzen scheint, oder eine Arbeit, bei der auf einem Toast ein Löffel balanciert, darauf noch ein Stück Zucker... (Abb. siehe rechts)

VT:

Das sind zwei Skulpturen, die unterschiedliche Auffassungen beschreiben: Bei der ersten wollte ich das Fallen zum Bild machen. Auch die kleine Arbeit mit dem Zuckerwürfel und dem Löffel und dem Toastbrot scheint eine Balance-Situation widerzuspiegeln, macht aber überhaupt keinen Sinn. Bei Fischli und Weiss z. B. gibt es den wunderbaren Satz »Am schönsten ist das Gleichgewicht, kurz bevor es zusammenfällt«. Aber weder das Toast an der Wand noch der Löffel auf dem Toast sind in irgendeiner Form sinnvoll. In der Arbeit ging es mir um eine Nonsensebene. Hier gibt es nur ein scheinbares Gleichgewicht.

Die Arbeit mit der Vase beschreibt konkret das Zusammenstürzen einer Konstruktion. Ich habe einigen Aufwand betrieben, um genau diesen Zeitabschnitt darzustellen: den Moment kurz nach dem Scheitern. Der dramatischste Moment des Fallens ist Ziel meiner Arbeit und um das Herausragende dieses Moments deutlich zu machen, fällt nicht irgendetwas von der Konsole an der Wand, sondern in diesem Fall meine Kopie einer chinesischen Vase aus dem 16. Jahrhundert. Es ist eine Arbeit über das Scheitern an der Schwerkraft.

DB:

Der Moment des Schwebezustandes, des Uneindeutigen, Unklaren, der Balance, zum Beispiel zwischen Noch-Stehen oder Schon-Fallen trifft auf viele deiner Arbeiten zu.

VT:

Ja, was ich daran mag, ist, dass genau in diesem Moment eine dialektische Situation beschrieben wird, in der das Gerade-Schon oder Gerade-Noch-Nicht zum Tragen kommt.

DB:

Bei der Arbeit mit dem Toast kommt ein humorvoller Aspekt hinzu.

VT:

Es ist, wenn man so will, die erste Arbeit einer kleinen Reihe von absurden oder »sinnlosen« Stücken. Einerseits ist die Arbeit komisch. Andererseits muss man sich fragen: Was ist eigentlich der größere Unfug? Dass der Löffel auf dem Toast balanciert auf eine Weise, wie er gar nicht balancieren könnte, oder dass eine Scheibe Toast an der Wand hängt. Ich versuche, mich möglichst wenig einzuschränken in den Bildmotiven, die mir zur Verfügung stehen. Wenn ich also der Meinung bin, ich brauche ein Toastbrot für eine Arbeit, dann schnitze ich eben ein Toastbrot.

Drei Fragen von Kant

DB:

Drei deiner neuen Arbeiten tragen Titel, die sich auf die drei berühmten Fragen von Immanuel Kant beziehen: »Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?« Wie kamst du darauf?

VT:

Das ist eine etwas längere Geschichte: Ich habe im Atelier gestanden und an der Figur des jungen Mädchens geschnitzt, das sich seine rechte Hand anguckt. Es ist eine Arbeit, die schon einmal in Bronze gegossen im Außenraum aufgestellt wurde. Ich habe im Nachhinein an der Figur weiter gearbeitet und war mit der Geste ihrer rechten Hand beschäftigt – das Mädchen, das sich selbst betrachtet, eine reflexive Situation. In dem Moment kam mir die Arbeit »Zerstreute Betrachtungen« in den Sinn, die ich 2007 gebaut habe und die im Flensburger Museum steht. Dass auch dort die Figur von einer sehr expressiven Gestik lebt, die aber gar nicht ganz klar etwas beschreibt. Die Figur in Flensburg ist scheinbar mit etwas Metaphysischem beschäftigt, in dem sie nach oben gewandt die Arme gen Himmel reckt, der Ausdruck der Figur leitet sich aus der Handhaltung ab. So ähnlich ist es bei der Mädchenfigur. Nur ist es da eine viel introvertiertere Situation, die beschrieben wird (Abb. siehe rechts).

Plötzlich dachte ich an die drei Kant-Fragen aus seiner Kritik der reinen Vernunft und war der Meinung, ich könnte mich mit der Frage »Was darf ich hoffen?« auf die Arbeit, die bei euch im Museum steht, beziehen. Und die Arbeit des jungen Mädchens, das die rechte Hand anschaut, könnte ich mit der Frage »Was kann ich wissen?« beschreiben, so dass ich eigentlich nur noch eine dritte Arbeit machen müsste, die die Frage »Was soll ich tun?« zum Thema hat.

DB:

Und weißt du schon, was du tun sollst für die letzte Arbeit?

VT:

Ich ahne es so langsam: Ich werde keine dritte Figur schnitzen, sondern eine fotografische Arbeit machen und zu einer sozusagen provisorischen dritten Fragestellung kommen.

DB:

Die Vorstellung ist doch schön, dass gerade die Frage »Was soll ich tun?« noch etwas vage und improvisiert vorkommt.

VT:

Je länger ich darüber nachgedacht hatte, desto besser fand ich das dann auch. Ich habe mir eine Weile selbst im Weg gestanden, weil ich nicht so richtig wusste, wie ich diese dritte Frage zu fassen bekomme. Aber ich glaube, jetzt bin ich auf einem guten Wege (Abb. siehe rechts).

Für mich hat sich in Bezug auf diese Arbeiten etwas verdichtet, ein größerer Horizont aufgetan: Dass ich einen Raum der Ausstellung unter dieser Fragestellung zusammenfügen und eine verhältnismäßig komplexe Anordnung finden kann. Ich bin ja kein Philosoph, sondern Künstler, der die Fragen einfach benutzt, ich will keine erkenntnistheoretische Debatte führen. Ich habe die Möglichkeit, eine Frage wie »Was kann ich wissen?« oder »Was soll ich tun« in einer Arbeit vorkommen zu lassen. Das ist, wenn man es isoliert betrachtet, mit einem großen Pathos verbunden, was ja bei Kant gar nicht so gemeint ist. Wenn ich aber diesen Zusammenhang benutze, habe ich die Möglichkeit, mit einem geistesgeschichtlichen Kontext zu spielen, wenn man so will, wie mit Toastbrot und Eisenbahn.

Slow Train Coming – Bob Dylan

DB:

Mit der Eisenbahn spielst Du auf eine neue Arbeit an, »Slow Train Coming«. Sie bezieht sich auf einen Albumtitel von Bob Dylan.

VT:

Genau. Gestolpert bin ich über diesen sehr bildhaften und lyrischen Titel und habe daraus eine Bildidee entwickelt, an der ich gerade arbeite. Sie ist technisch nicht ganz unkompliziert, weil ich mit einer fahrenden Eisenbahn arbeiten möchte und da werde ich zum Glück professionelle Unterstützung bekommen. Die Grundidee ist, dass ich einen Tisch baue, auf dem es einen lang gestreckten Tunnel gibt mit einem Eingang und einen Ausgang, ansonsten ist nur ein Gleisoval zu sehen, das auf dem Tisch befestigt ist. Und auf diesem Oval soll ganz, ganz langsam, weil es ja »Slow Train Coming« heißt, eine Eisenbahn entlang fahren (Abb. in der Entstehungsphase siehe rechts).

Sie verschwindet in dem Tunnel auf der linken Hälfte der Tischplatte und fährt im nächsten Moment aus dem rechten Tunnel schon wieder heraus, so dass es wie ein Zeitsprung aussieht. Das funktioniert natürlich nur, weil vor dem Tunnelende ein zweiter Zug, der genauso aussehen wird, wartet und losfährt, wenn der erste Zug in den Tunnel hinein gefahren ist. Es ergibt sich eine Art Hase-und-Igel-Spiel – kaum ist der Zug im Tunnel, ist er schon wieder draußen. Jeder wird sich fragen, wie das kommt, und wenn man ein bisschen darüber nachdenkt, wird man sicherlich auf die Lösung kommen. Entscheidend ist jedoch das möglichst suggestive Bild. Es soll sehr eindrücklich bildhaft deutlich werden, dass in dieser Arbeit ein Zeitsprung vorkommt, die Diskrepanz zwischen Schnell und Langsam, und das auf einer humorvollen Ebene.

DB:

Deine Arbeit »Slow Train Coming« wird in der Ausstellung im Kontext mehrerer Arbeiten stehen, die sich auf Stücke von Bob Dylan beziehen. Was ist das mit Bob Dylan und Volker Tiemann? Wie kann ich die zusammen bringen?

VT (lacht):

Da könnte ich jetzt etwas zur Dramaturgie der Ausstellung sagen. Das Spezielle an der Ausstellungssituation des Museumsbergs Flensburg ist ja, dass es eine Abfolge von ähnlich großen Räumen an einem langen Flur gibt. Ich fand es reizvoll, für diese Räume jeweils eine inhaltliche Gewichtung zu finden.

DB:

Das heißt, für jeden Raum ein eigenes Thema.

VT:

Genau. Sie sollten sich deutlich voneinander unterscheiden. Während drei Räume etwas formaler und inhaltlich offener angelegt sind, bin ich als Pendant zu dem Kant-Raum auf einen Raum über Bob Dylan gekommen. Zum einen, weil ich ihn als Musiker extrem schätze und für einen der innovativsten lebenden Musiker halte und somit ein würdiges Gegenüber zu Kant herstelle. Gleichzeitig hat es auch einen biografischen Bezug, denn seitdem ich Musik höre, liegt er mir am Herzen, finde ich die poetische Ebene, die in seiner Musik steckt, großartig. Deshalb habe ich versucht, ganz subjektiv einige Arbeiten zu finden, die sich unmittelbar auf Songtitel oder Titel von CDs und Alben beziehen.

DB:

Der Ausstellungsbesucher wird sich ja fragen, ob sich die Inhalte deiner Arbeiten auf die Inhalte der Texte von Bob Dylan beziehen.

VT:

Ich benutze die Titel relativ unvoreingenommen, undogmatisch und unmittelbar. Sie stellen oftmals eine lyrische Verdichtung dar, die für sich stehend als Sprachfragment funktioniert. Ich greife die Titel dann auf, wenn sie einen möglichst assoziativen Hintergrund mit einer großen Bildhaftigkeit beschreiben. Im Fall von »Slow Train Coming« fand ich das sehr eindrücklich. Über diese Arbeit ist die Idee zu dem ganzen Raum entstanden.

Zufall und Notwendigkeit

DB:

Was ist zuerst da: ein Titel beziehungsweise ein Thema oder eine Skulptur? Wie ist der Entstehungsprozess deiner Werke?

VT:

In der Regel ist es so, dass sich eine Idee festmacht und am Anfang gar nicht so richtig klar ist, wie die Arbeit zum Schluss aussehen wird. Ich habe eine verhältnismäßig improvisierte Vorgehensweise, die auch immer den Zufall mit kalkuliert, regelrecht einplant. Ich versuche, die Arbeit so offen wie möglich anzulegen. Meine favorisierte Vorgehensweise ist es, diese Nichtplanbarkeit in den Werkprozess einzubeziehen und darauf zu hoffen und zu bauen, dass daraus vielleicht zum Teil unverhoffte Anordnungen oder Lösungen entstehen und ich den Arbeiten dadurch von vornherein eine gewisse Eigenständigkeit zubillige.

DB:

Im Vorgespräch zum Interview hast du in diesem Zusammenhang den Titel eines Textes von Heinrich von Kleist erwähnt: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden.

VT:

Ganz losgelöst von seinem historischen Hintergrund ist dieser Satz für mich eine großartige Beschreibung vom künstlerischen Prozess, von dem Vorgang, der in einem arbeitet, wenn man sich mit etwas auseinandersetzt und gleichzeitig versucht, es zum Ausdruck zu bringen.

Wenn ich versuche, darüber nachzudenken, was passiert, während wir uns unterhalten, und ich würde versuchen, eine Beschreibung für das zu finden, was ich z. B. in fünf Minuten sagen werde: Das ist mir in diesem Moment ja noch gar nicht bewusst, aber im Gespräch bereits irgendwie angelegt, doch ergibt es sich erst aus dem Gespräch. So ähnlich ist es, wenn ich eine Arbeit mache, dann ist zunächst ein Anfang gemacht, und in dem Anfang steckt auch die weitere Bewegung, die die Arbeit beschreiben wird, aber es ergibt sich die Arbeit eben erst beim Arbeiten, zumindest nach meiner Auffassung. Dieser Prozess kommt auf fantastisch prägnante Weise in dem Kleist-Satz zum Ausdruck.

DB:

Das hat für dich zur Folge, dass frühzeitig relativ vage eine Idee formuliert wird, dass du nicht wartest, bis sie perfekt durchdacht ist.

VT:

Genau. Die Improvisation beziehe ich auch von vornherein in die materielle Umsetzung ein, so dass ich so schnell wie möglich so nah wie möglich an einer Visualisierung dran bin, ausgehend von einer ersten Idee, die ich dann ständig korrigiere. Es gibt manchmal eigentümliche Konstruktionen, in denen irgendwelche Hölzer mit Schraubzwingen z. B an einer Trittleiter befestigt sind, nur um ansehen zu können, wie irgendwas in einer bestimmten Lage oder Position funktioniert.

Das zurzeit extremste Beispiel dafür ist eine große Schleife, die an der Wand hängt. Ich hatte eine vage Vorstellung davon, wie die Form der Arbeit aussehen könnte, aber das ließ sich aus dem Herstellungsprozess nicht mal im Ansatz präzise kalkulieren, sondern allenfalls andeuten. Um aber weiter arbeiten zu können, was ausgesprochen kompliziert war, musste ich mir relativ frühzeitig Konstruktionen überlegen, um die noch unfertige Arbeit in ihrem Formverlauf anschaulich zu haben.

DB:

Die Leichtigkeit der Schleife, die vor der Wand zu schweben scheint, steht also im krassen Gegensatz zu der schwierigen technischen Überlegung und Ausführung.

VT:

Aus dem Kontrast zwischen dem Aufwand und der Leichtigkeit in der Wirkung entsteht die Spannung, die aus der Arbeit strahlt. Das Moment der Schwerelosigkeit oder des Schwebens ist fast auf die Spitze getrieben – viel leichter kann man etwas nicht aussehen lassen, zumindest nicht in meinem Bildvokabular. Und dabei finde ich besonders interessant, dass viele Arbeiten zwar kompliziert und aufwändig hergestellt sind, die Materialien selbst aber häufig, ich will nicht sagen billig, aber verhältnismäßig unspektakulär sind. In der Regel ist es Holz, entweder Sperrholz oder massives Holz, aber es ist ein Material, das verhältnismäßig wenig Geld kostet. Wenn ich mir aber überlege, dass ich manchmal Monate lang daran arbeite, liegt für mich ein wesentlicher Reiz in der materiellen Verdichtung, wenn ich viel Energie in eine Arbeit investiert habe und sie mit viel Aufmerksamkeit versehen ist. Das sehe ich nicht dogmatisch, aber es ist mir persönlich sympathischer, als wenn eine Arbeit aus teurem Material gemacht ist.

Everything is broken

DB:

Die Aufmerksamkeit und Wertschätzung, die du dem Material zukommen lässt, betrifft natürlich dein Werkmaterial, aber manchmal ist es auch ein Gegenstand aus deinem Alltag, der deine Aufmerksamkeit fordert, z. B. in der Arbeit »Everything ist broken«, die in den Bob-Dylan-Kontext gehört.

VT:

In dem Fall war es die Lieblingsvase meiner Frau, die herunter gefallen und nur noch in Fragmenten vorhanden war. Dann ergab es sich aber, dass eine von diesen kleinen Scherben meine Aufmerksamkeit erregte – manchmal muss man ja die Dinge nur von der anderen Seite betrachten und dann werden Qualitäten sichtbar, die man darin gar nicht vermutet hatte (Abb. siehe rechts). Ich fand die Vorstellung reizvoll, eine Scherbe oder etwas Kaputtes als vollständig zu betrachten. Ich habe deshalb versucht, relativ minutiös dieses Bruchstück – vergrößert natürlich – nachzubauen, um die Ambivalenz von Kaputt und Heil und Teil und Ganzes deutlich werden zu lassen.

DB:

Wenn jetzt ein einfaches Gebrauchsglas herunter gefallen wäre, hätte es vielleicht nicht die gleiche Wertschätzung erfahren wie diese Vase, die die Lieblingsvase deiner Frau war und so noch länger sein kann?

VT:

Ja genau. Aber das ist oft auch von Zufällen abhängig. Mir ist schon 100-fach irgendwas kaputt gegangen und ich weiß nicht, was passieren muss, dass man dann an diesem einen Stück hängen bleibt und sich überlegt: Vielleicht ist das gerade als Teil oder Fragment viel besser, als wenn es noch ganz wäre, denn hätte ich die Vase im Ganzen, hätte es keine Veranlassung gegeben, daraus eine Arbeit zu machen. Es hängt sicher auch damit zusammen, dass ich bereits über den Bob-Dylan-Raum nachgedacht habe und mir der Titel »Everything is broken« als sehr metaphorischer Titel in den Sinn gekommen war. Da war sozusagen die Aufmerksamkeit gegenüber allem, was kaputt ist, etwas größer als vorher.

Es gibt eine zweite kleine Arbeit, die zu dem gleichen Titel gehören würde. Vor Jahren habe ich eine kleine Porzellanschale zerbrochen. Und auch da bin ich über das Stück gestolpert, das zu zwei Dritteln noch heil war. Ich habe aus Holz das kaputte Drittel nachgeschnitzt, an das Porzellanteil geklebt und grob verspachtelt, so dass die Schale wieder ganz ist. Das Kaputte wird dadurch fast noch deutlicher (Abb. siehe rechts).

Verworfene Gegenstände

DB:

In einer Reihe von Arbeiten machst du Gedankenspiele plastisch sichtbar. In der Serie »Verworfene Gegenstände« wird die Ideenskizze, das Finden und Verwerfen einer Idee, dreidimensional ausgedrückt. Oder du machst in Arbeiten mit roten Pfeilen z. B. die Flugbahn einer aus dem Fenster geworfenen Tasse sichtbar (Abb. siehe rechts).

VT:

Reizvoll ist für mich, bildhafte Situationen umzusetzen, die man der Skulptur zunächst gar nicht zuordnen würde oder die sich klassischerweise der bildhauerischen Bearbeitung entziehen. Wenn ich beispielsweise eine Skizze auf einem Stück Papier mache und sie nicht richtig finde, kritzel ich sie weg und mache eine neue. Die Situation des Weggestrichenen oder Ausgestrichenen aber als eigenständiges Bild aufzugreifen, ist das, was mich interessiert. Daraus entsteht eine Doppelbödigkeit, die ich spannend finde. Ich möchte alles das, was in meinem Kopf vorkommt, möglichst in die Arbeit hinein retten, so dass das Bild möglichst vollständig ist.

DB:

Du machst also sogar deine verworfenen Gedanken sichtbar.

VT:

Was ich daran mag, ist das gewissermaßen rhetorische Moment, die sprachliche Erweiterung; wenn ich mir im Augenblick des Verwerfens einer Idee überlege: Vielleicht ist das Verworfene viel besser als das Ursprüngliche – so ähnlich, wie die zerbrochene Vase brauchbarer ist als die heile. Das gibt mir die Möglichkeit, einen Werkbegriff zu entwickeln, der auch das Verworfene, Durchgestrichene, die Negation von etwas integriert.

Da mir das Prozesshafte meiner Arbeitsweise wichtig ist, ich den ganzen Arbeitsprozess als Teil der Arbeit begreife, ist natürlich auch das Verwerfen einer Idee Teil des Prozesses und macht ihn komplexer, als wenn ich nur auf ein fertiges Resultat hin arbeiten würde. Es erweitert das Spektrum meiner Ausdrucksmöglichkeiten.

Der Künstler nach dem Sprung in die Leere

DB:

Auf Plakat und Einladung zur Ausstellung wird eine neue Arbeit von dir zu sehen sein, die ein Paar Schuhe auf einem ausladenden Wandpodest zeigt.

VT:

Die Arbeit wird vermutlich heißen »Der Künstler nach dem Sprung in die Leere« und bezieht sich auf ein Foto von Yves Klein von 1960, »Der Sprung ins Leere«. Es ist eine Fotomontage, über die ich vor langer Zeit gestolpert bin. Es zeigt Yves Klein, der sich aus dem Fenster eines kleinen Hauses herausstürzt und quasi zu fliegen scheint. Und darauf nimmt meine Arbeit Bezug. Nur ist bei mir die Situation eine andere, da der Künstler selbst nicht vorhanden ist, sondern nur in Abwesenheit durch seine leeren Schuhe in der Arbeit vorkommt.

DB:

Irritierend ist ja die Form der Schuhe, die leer sind, aber so aufgebogen, als ob jemand darin auf Zehenspitzen stünde.

VT:

Ich habe lange drüber nachgedacht, wie ich die Schuhe vorkommen lasse, um eine Differenz zu Schuhen auszudrücken, die einfach abgestellt sind. Wenn ich sie quasi auf die Zehenspitzen stelle, denkt man sich automatisch jemanden hinein.

DB:

Du porträtierst ein Paar deiner Schuhe, schlichte schwarze Schuhe...

VT:

Ich habe diese Schuhe genommen, nicht nur weil es meine Schuhe sind, sondern auch, weil sie für mich am meisten der allgemeinen Vorstellung von Schuhen entsprechen. So deutlich wie möglich sollten auf dem Sockel zwei Schuhe stehen. (Abb. siehe rechts)

DB:

Der Sockel sieht aus wie ein Mauervorsprung – als ob jemand von einer Konsole springt.

VT:

Um die Wirkung der Schuhe auf dem Sockel in ihrer Labilität und heiklen Position zu unterstützen, hängt der Sockel nicht einfach stabil an der Wand, sondern ragt relativ theatralisch aus der Wand heraus.

DB:

Diese Skulptur ist sehr erzählerisch, man kann sich verschiedenste Geschichten vorstellen, die passiert sind: Wer ist da herausgesprungen und warum?

VT:

Das ist für mich ein Versuch, es vielgestaltig zu machen, ohne eindeutig zu werden. Dass etwas Ungewöhnliches passiert ist oder zu passieren scheint, ist relativ klar. Man weiß zwar nicht genau was – aber die Schuhe, die an der Kante des Sockels stehen und nach vorne gekippt da sind, stehen da mit einer gewissen Dramatik.

DB:

Die Arbeit nimmt, nicht nur weil sie auf das Plakat kommt, eine herausgehobene Stellung ein, sondern weil sie sozusagen ein Selbstporträt ist.

VT:

Ich finde es eigentlich ganz sympathisch, dass diese Arbeit, die verhältnismäßig wichtig ist, auch auf dem Titel des Kataloges zu sehen sein wird und ich dann darin vorkomme, ohne darin vorzukommen.

Dieses Interview wurde am 29. Mai 2012 in Kiel geführt.