Von Peter Thurmann. Aus: Stücke über die Schwerkraft, Museumsberg Flensburg 2012.

Stücke über die Schwerkraft, über die Schwerkraft hinaus

Fischli und Weiss im Grünen

Entstehungsjahr
2004
Material
Holz, Farbe
Maße
18 x 35 x 20 cm
»Sie fiel, fiel, fiel.«
»Entweder war der Schacht sehr tief, oder sie fiel sehr langsam, denn sie hatte im Fallen reichlich Zeit, sich umzusehen und sich zu fragen, was wohl als nächstes passieren würde.« Lewis Carroll, Alices Abenteuer im Wunderland (1862/1865)1

Erst als ein Apfel Isaac Newton auf den Kopf fiel, war die Zeit reif für das Gravitationsgesetz; kleine Ursache, große Wirkung. Alle Spekulationen seit der Antike über die Schwerkraft waren nun auf eine allgemeingültige Formel gebracht. Nicht nur die Wissenschaft hat davon profitiert. Der Film der Installation Lauf der Dinge der Schweizer Künstler Peter Fischli und David Weiss, der 1987 auf der documenta 8 für Aufsehen sorgte, gelang nur im Wissen um die Schwerkraft. Doch ihre kuriose Versuchsanordnung war nicht im physikalischen Sinn ergebnisorientiert und zielgerichtet. Ihre Phantasie testete die Grenzen des Machbaren mit Lustgewinn aus, bediente sich wissenschaftlicher Erkenntnisse im zweckfreien Spiel. Volker Tiemann überträgt in seiner Arbeit »Fischli und Weiss im Grünen« 2004 die Newtonsche Apfelanekdote auf das Schweizer Künstlerpaar.2 Eine doppelte humorvolle Hommage, denn als Bildhauer und Objektkünstler profitiert er von Newtons Erkenntnis, wie er in der Arbeitsweise, etwa der Transformation alltäglicher Motive in künstlerische Materialien und Zusammenhänge, Berührungspunkte mit Fischli & Weiss hat.

Chinesische Vase – Stück für meinen Statiker

Entstehungsjahr
2011
Material
Holz, Farbe
Maße
118 x 116 x 46 cm

Indem Volker Tiemann die Möglichkeiten und Grenzen der Schwerkraft auslotet, erreicht er den größtmöglichen Effekt seiner Arbeiten beim Betrachter, dem er anfangs eine wissenschaftlich abgesicherte Situation vorspiegelt, die dann ins Absurde umkippt. »Chinesische Vase (Stück für meinen Statiker)« gibt den Moment vor, in dem die Vase das Gleichgewicht verliert und von der Konsole fällt. Ein Pfeil weist auf die Kraft hin, die, zum Schrecken aller Kunstliebhaber, das kostbare Stück ins Wanken und unweigerlich zum Zerspringen bringt. Zugleich wissen wir aber: Das Horrorszenario wird nicht passieren. Tiemann treibt sein Spiel mit unserem Ordnungsdenken. Obwohl wir sicher sein können, dass das Objekt so labil, wie es ist, bestehen bleiben wird, kennen wir – aus der Wirklichkeit oder aus Filmen – Situationen, wo etwas Wertvolles zerbricht oder zu zerbrechen droht, wo wir hinzueilen, um das Schlimmste zu verhindern, und dieses Gefühl bleibt uns im Hinterkopf. Ist es uns möglich, uns ohne Skrupel unter die stürzende Vase zu stellen?

Hinzu kommt: Hier wird (die) Kunst vom Sockel gestoßen. Der Bildhauer Tiemann untergräbt sein eigenes Gewerbe, das normalerweise genau diese Situation vermeiden will. Er wäre also ein Rebell, ein Bilderstürmer? Das Kunstwerk als Abbild legt dieses nahe. Doch das, was für uns im Zentrum unserer Anschauung steht, ist für Tiemann Anlass, es von seinen Grenzen her zu betrachten. Auf der einen Seite geht er die Sache spielerisch an, nutzt den Verblüffungseffekt. Ob wir eine solche Situation erschreckend finden, ironisch oder lustig, liegt an unserer jeweiligen mentalen Verfassung, die uns der Künstler nicht vorschreibt, sondern in der gesamten Emotionsbandbreite offenlässt. Andererseits eröffnet er gerade damit eine Fülle von Reflexionsebenen und regt Kommunikation über einen derartig eindeutig-uneindeutigen Sachverhalt an. Fassen wir das Kunstwerk abbildlich, allegorisch, symbolisch auf? Die Vase, die Konsole, der Pfeil: sie sind aus Holz. Schon ihr für die Schwerkraft relevantes spezifisches Gewicht weicht von dem der gleichen Gegenstände in der Realität ab. Die Brisanz besteht also weniger im Werk selbst als darin, was es auslöst. Eine Skulptur ist in der Regel ein Gegen-Stand, sie verharrt uns gegenüber, hält auf Distanz und will sich – mit Auge, Gehirn, Seele, manchmal auch Händen – begreifen lassen. Tiemann erzählt mit seinen Objekten Geschichten, das heißt er reißt sie an, setzt unsere Phantasie in Bewegung.

Die Regeln der Kunst sind nicht deckungsgleich mit den naturwissenschaftlichen, aber sie sind auch nicht schlechthin unabhängig davon. Der Oxforder Mathematikdozent Charles Lutwidge Dodgson alias Lewis Carroll lässt Alice nicht in den Traum entschweben, sondern (in ein Kaninchenloch) fallen. Doch er bremst diesen Fall – und damit den Fortgang der Geschichte – entgegen den Gesetzen der Schwerkraft zugleich ab. Sein märchenhaft erzählter Traum ist an der Realität orientiert, ist Projektion der Logik eines zehnjährigen Mädchens und seiner eigenen Kenntnis der Logik, gewendet in Nonsens. Das ist nicht sinnloses Zeug, sondern bewusster Regelverstoß, lustvolle Verdrehung der Tatsachen. Rätsel und Fragen werden gestellt, auf die keine oder zumindest keine im üblichen Sinn zufriedenstellenden Lösungen und Antworten gegeben werden, Wortspiele widersprechen allen Regeln der Vernunft. Der Spaß funktioniert aber nur deshalb, weil wir die Regeln und den Ernst dahinter kennen. »Großes Stück über die Schwerkraft – Hocker und Haus« von Volker Tiemann zeigt den Aberwitz verschobener Größenverhältnisse und den mit großer Selbstverständlichkeit vorgetragenen artistischen Bewegungsimpetus eines fliegenden Hauses, das einen doppelten Looping vollführt hat. Wäre das Haus beispielsweise ein Ball, würden wir den Flug mimetisch nachvollziehen können als lediglich witzigen Einfall. Tiemann nutzt metaphorische Transformationen, wie sie in solchen Redewendungen steckt, dass einer Bäume ausreißen oder Berge versetzen kann. Er weiß, dass Gleichungen mit Äpfeln und Birnen nicht statthaft sind. Doch Märchen, Traum, Fiktion und auch die Kunst können Rechenexempel und physikalische Gegebenheiten in eine Metalogik umwandeln.

Schaf bei Licht

Entstehungsjahr
2012
Material
Holz, Sperrholz, Spachtelmasse, Lampe
Maße
50 x 61 x 21 cm

Tiemann kombiniert sogar Schafe und Glühbirnen, wie in seiner Arbeit »Schaf bei Licht«. Solche Schafe, kunstvoll geschnitzt wie Krippenfiguren, tauchen bei ihm in verschiedenen, widersprüchlichen Zusammenhängen auf. Das Tier kann auf einem großen, von Tiemann grob verspachtelten Sockel stehen, wie für eine Parksituation geschaffen; es kann aber ebenso – in seiner ganzen Perfektion – als »Ausgestrichenes Schaf« (aus der Serie Verworfene Gegenstände) von einem roten Gitterkreuz überlagert, quasi getilgt werden. Ist das »Schaf bei Licht« ein verworfenes Geschöpf, das Erleuchtung braucht? Bei Licht besehen ist es für uns nichts anderes als ein Kunstobjekt, kombiniert mit einem ehemals modernen Designerprodukt. In vergleichbar formaler, nämlich gebeugter Haltung lässt Tiemann beide – ihrer jeweiligen Funktion gemäß – das gleiche Ziel ansteuern: Die Lampe beleuchtet das, was das Schaf sich imaginär zu fressen sucht – für uns eine Leerstelle, die vom Sichtbaren wegführt.

»Leeres Blatt« markiert diesen Nullpunkt prägnant. Es ist ein unbedrucktes, unbeschriebenes DIN A4-Blatt, es sagt nichts aus als sich selbst; es könnte durch einen Luftzug bewegt oder weggeweht werden, wäre es nicht aus Holz. Dargestelltes und Handhabung des Materials täuschen vor, zur Deckung zu kommen, doch das Erstaunlichste des kleinen Werks ist ein Paradox zweier sich eigentlich ausschließender Phänomene: die illusionistische Trompe-l’oeil-Wirkung und zugleich der minimalistische Abstraktionsgrad. Die Unentschiedenheit, der wir – bei aller Klarheit – ausgesetzt werden, hat Affinität zu Franz Kafkas Parabel Die Bäume:

»Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee. Scheinbar liegen sie glatt auf, und mit kleinem Anstoß sollte man sie wegschieben können. Nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar.« Franz Kafka, Sämtliche Erzählungen. Herausgegeben von Paul Raabe, Frankfurt/M. 1970, S. 19.

Leeres Blatt

Entstehungsjahr
2009
Material
Holz, Farbe
Maße
23 x 34,5 x 5 cm

Die Flachheit von »Leeres Blatt« verweist – ebenso wie »Ausgestrichenes Schaf« – auf Tiemanns Interesse am Übergang von der Zwei- zur Dreidimensionalität. »Große Schraffur« und »Kleine Schraffur« sind Bild und Relief in einem, vereinen Grafisches und Skulpturales in sich. In eine Art Shaped Canvas ist ein Liniengeflecht eingefräst, das Stuhlgeflechten oder Spitzendeckchen ähnelt und durch Versetzung der Linien eine sich überlappende Felderung erzeugt. Vor dunkelblau gefärbtem Grund hebt sich das nackte, hellbraun changierende Holz ab, in Umkehrung der alten Tafelmalerei. Den Wechsel der Dimensionen und Zustände finden wir auch bei Lewis Carroll: Alice erwacht aus ihrem Traum, nachdem die eben noch plastisch vor Augen stehende Herz-Königin und ihr Hofstaat zu einem flachen Spielkarten-Blatt schrumpfen, das auf sie herab prasselt, und sie braucht keine Schwerkraft zu überwinden, um wieder aus dem Wunderland nach oben zu gelangen, weil sie neben ihrer Schwester erwacht, »die ihr zärtlich einige tote Blätter aus dem Gesicht strich, die von den Bäumen auf sie herab fielen«.3

Volker Tiemann bewegt sich an Gattungsgrenzen wie an Grenzen existenzieller Erfahrung. Einige Arbeiten orientieren sich an Song-Titeln von Bob Dylan. »Idiot« wind ein wie beim Abschiedwinken vom Wind gebauschtes Taschentuch, ist eine der vielen Fragen ohne Antwort, die Tiemann stellt. Und Arbeiten mit dem Titel Everything is broken ergänzen zerbrochene Porzellanteile in Holz oder ahmen sie nach, lassen liebgewordene Erinnerungsstücke weiterleben in einer Ambivalenz von Schmerzgefühl und Erhaltungsfreude. In »Slow train coming« wendet Tiemann einen der wenigen Tricks an, die dem Betrachter verborgen bleiben. Die Spielzeugeisenbahn fährt langsam in den Tunnel und kommt schneller wieder heraus als erwartet. Bei aller Hintergründigkeit entbehren Tiemanns Arbeiten nie die Leichtigkeit des Seins.

Modern Times – aus: Stücke für Dylan

Entstehungsjahr
2009
Material
Holz, Farbe
Maße
310 x 110 x 70 cm

»Modern times« präsentiert eine blaue geschlängelte Linie, in eine Holzskulptur umgesetzt, wie die Gewinnerin eines Schönheitswettbewerbs auf dem Siegertreppchen. Sie erfährt eine Weiterentwicklung im Querformat als »Große schöne Schleife«, ein Stück Geschenkband oder Haarschleife, ein in Bewegung gesetztes hellblaues Relief in luftiger Höhe. Wie die Kontra-Reliefs des russischen Konstruktivisten Wladimir Tatlin überspielt es die Wand- und Raumgrenzen.

Der russische Koßnstruktivismus der 1920er Jahre bietet einen weiteren Vergleich zu Tiemanns gegenständlichen Werken. El Lissitzky reizte die architektonische Statik in seinem Wolkenbügel, dem Projekt eines rektangulären Gebäudes, dessen ausladende Schenkel in luftiger Höhe schweben sollten, bis an die Grenzen der Machbarkeit aus. Ähnlich labil ausbalanciert wirkt Tiemanns »Mein linker Arm beim Frühstück Nr. 2«, der Ausschnitt einer Frühstückssituation, in der der Zeigefinger der Hand in aufreizender Kommunikation mit der Tülle der Teekanne steht. Der Arm müsste mitsamt dem Tischbrett abrutschen, wenn nicht die Kanne das Gegengewicht bildete. (»Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar.«)

Nach dem Prinzip »form follows function« entwarfen die Architekten des Bauhauses mit Hilfe neuester Materialien wie Stahl und Beton Gebäude, deren Konstruktion klar auf ihre Bestimmung hinweisen. Die ausgedehnten Fensterflächen ihrer Fassaden spiegeln allerdings weniger das Innenleben als die Umgebung und den Himmel. Das rationale Konzept entwickelt wie von selbst eine Transzendierung, die sich von Statik und Schwerkraft löst und für die selbst die Kenntnis der Reflexion keine hinreichende Erklärung gibt. Auch wenn Newtons Gravitationsgesetz vornehmlich der Himmelsmechanik galt, bleibt doch der Himmel der Bereich, der sich weitgehend unserer Erfahrung entzieht, auch wenn er nicht mehr als Sitz Gottes fungiert.

Der Küstler nach dem Sprung ins Leere

Entstehungsjahr
2012
Material
Holz, Sperrholz, Farbe, Spachtelmasse
Maße
67,5 x 61,5 x 100 cm
Beschreibung
Nach Yves Klein: Der Sprung in die Leere

Der Sprung ins Leere, den Yves Klein 1960 als Foto inszenierte, ist ein Prototyp künstlerischer Autonomie der Moderne. Klein scheint in einer normalen Straßensituation einen Zaun übersprungen zu haben und mit ausgebreiteten Armen vor dem Himmel zu schweben. Fünfzig Jahre nach Kleins frühem Tod lenkt Volker Tiemann in seiner Hommage »Der Künstler nach dem Sprung in die Leere« augenzwinkernd den Blick zurück auf Ausgangsposition und Ergebnis zugleich: die leeren Schuhe, aus denen Yves Klein auf Zehenspitzen zum Sprung angesetzt haben könnte.

Spätmittelalterliche Altarbilder der Himmelfahrt Christi zeigen die Fußspuren des Aufgefahrenen als letztes irdisches Relikt. So leer, wie diese Lederschuhe aus Holz mit ihren Schnürsenkeln aus Draht sind, ist auch der Himmel, und gerade diese Leere wurde für Klein zum Inbegriff seines künstlerischen Schaffens in Fülle. Aber während Klein sich in der Leere, ähnlich wie der Christus der Himmelfahrt, verortet, sind Tiemanns Schuhe als leere Hülle der einzige Verweis auf seinen eigenen Sprung, der bereits vollzogen ist. Wo ist Tiemann gelandet: irgendwo mitten in der Leere oder dahinter, möglicherweise auf dem Boden der Tatsachen, dem er selbst ständig den Boden unter den Füßen wegzieht?

Volker Tiemann schöpft aus der Fülle alltäglicher, oft banaler Gegenstände. Er setzt sie auf luftige Sockel, befördert sie durch die Luft, lässt sie stürzen oder schweben, hebt die Schwerkraft der Gebilde und ihrer Bedeutung auf, entleert ihren Sinn bis zum Nonsens, um sie wieder aufzufüllen mit der Kraft unserer Assoziationen und Gedanken, abgehoben von dem, was wir eben noch meinten deutlich vor Augen gehabt zu haben. Denn: Die Wahrheit liegt zwischen den Dingen.

1
Lewis Carroll, Alices Abenteuer im Wunderland. Übersetzt und herausgegeben von Günther Flemming, Stuttgart 1999, S. 11 und S. 10-11.
2
Vgl. Arne Rautenberg, Gedanken über die Nachahmung der Wirklichkeit zum Zweck der Wiederherstellung des reinen Blicks, in: Volker Tiemann. »Wenn keiner singt, dann ist es still«, Ausst.-Kat. Stadtgalerie Kiel 2004, S. 11-30, hier S. 18.
3
Carroll 1999 (wie Anmerkung 1), S. 145.